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Annette und Matthias Lauer – Von unserem Weg zu und mit Pflegekindern

Daniela Irle

28. April 2025

Nach über 20 Jahren bin ich unverhofft Annette und Matthias bei einer Fortbildung wiederbegegnet und habe sehr viel Bewegendes in der kurzen Zeit unserer Begegnung erfahren können. Ich fand es besonders spannend, von ihrer Aufgabe als Notfallpflegeeltern (Bereitschaftspflege) zu erfahren.
Da es bei Himmelsdraht immer wieder auch darum geht, welche Wege der Heilung Gott mit uns geht und wie er uns auch väterlich und mütterlich begegnet, teilen wir hier unseren Austausch mit interessierten Lesern. Annette und Matthias haben aus dem Bauch heraus erzählt und ich habe es für sie verschriftlicht.

Familie Lauer

1. Ihr seid beide ausgebildete Lehrer für Grund- und Gymnasiallehramt. Habt ihr euch über eure Berufe auch kennengelernt?

Ja, eigentlich schon. Wir waren beide an der Universität in Frankfurt. Ich für Grundschullehramt mit Hauptfach Musik und Matthias für Gymnasiallehramt mit Germanistik und Geschichte.
Parallel hatte Matthias Schauspielunterricht und sein Schauspiellehrer schlug ihm vor, dass er seine Bühnensprache verbessert, indem er in einen Chor geht und dort singt. Matthias ist dann nicht in irgendeinen Chor gegangen, sondern hat sich bei dem Chor der Musikstudenten gemeldet und in diesem Chor saß ich.
So saßen wir beide plötzlich nebeneinander und so fing unsere Bekanntschaft an. Nach einem halben Jahr sind wir zusammengekommen und nach drei Jahren haben wir geheiratet.
Matthias ist ziemlich bald vom Gymnasiallehramt umgestiegen und hat nochmal Grundschullehramt studiert. Dort hat er sich den Kindern sehr viel näher gefühlt und ist jetzt sogar in der sogenannten „Schule für Kranke“ gelandet.
Das bedeutet, dass er an der Kinder- und Jugendpsychiatrie arbeitet. Die Kinder, die zeitweise dort aufgenommen sind, sind ja auch schulpflichtig und er ist dann der Lehrer für die Kinder, die dort einige Wochen und Monate leben.

2. Wofür schlägt euer Herz in der Schule und in der Arbeit mit Menschen?

Uns geht es um das intensive Arbeiten mit einem Kind, vor allem um das Kennenlernen der Persönlichkeit und zu sehen:
Welche Fähigkeiten hat dieses Kind? Was kann ich stärken, welche Stärken können wir hervorheben?
Wir glauben, dass die Beschäftigung mit den Stärken eines Menschen wichtiger ist, als die Beschäftigung mit den Schwächen. Wir glauben, dass ein gestärktes Kind sich sehr viel besser seinen Schwächen stellen kann.
Das bedeutet, dass wir natürlich versuchen, die Schule nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Möglichkeit zu sehen, Kindern ein gutes Vorbild und in persönlichen Gesprächen einfach nah zu sein und ihnen etwas mitzugeben.
Für uns ist eben nicht das Schulmeisterliche wichtig, sozusagen nur das Fachwissen in ein Kind rein zu bekommen, sondern das Pädagogische. Das ist unsere Profession, pädagogisch zu handeln. Das Fachwissen in den Unterricht und in die Erziehung, die wir vormittags mit einem Kind durchleben, einfach mit zu integrieren.

3. Ihr habt vier eigene Kinder. Wie erlebt ihr deren Unterschiedlichkeit?

Ja, die vier Kinder sind natürlich unterschiedlich und wir haben auch zu jedem Kind eine unterschiedliche Bindung.
Unsere Älteste, Tabea, ist jetzt 20 Jahre alt. Sie ist fröhlich, aber auch bodenständig. Die ersten zweieinhalb Jahre ihres Lebens hatte sie uns alleine und war schon immer abenteuerlustig. Aber sie wusste sich auch zu Hause sicher geliebt.

Dann haben wir die achtzehnjährigen Zwillinge: Elias und Naomi.

Elias hat einen starken Willen und ist gleichzeitig ganz sensibel und fürsorglich, gerade wenn es um kleinere Kinder geht. Und die Zwillingsschwester Naomi ist stetig und gewissenhaft. Ist auch sehr lustig.
Es macht wirklich Spaß, mit ihr schon erwachsene Diskussionen zu führen.

Unser Jüngster, Samuel, ist jetzt 14 Jahre alt.
Er kann sich in Themen vergraben, kann stundenlang spielen und auch für sich sein. Er liebt aber auch das Zusammensein mit anderen und hat durch die Pflegekinder, die wir neun Jahre lang hatten, auch immer noch kleinere Geschwister oder fast immer auch noch kleinere Geschwister um sich herumgehabt. Ab seinem vierten Lebensjahr fühlte er sich also gar nicht mehr richtig als Jüngster.

Die drei älteren Kinder, Tabea, Elias und Naomi, haben vor allem immer zusammengespielt. Es war wirklich immer schon wie eine Freundesgruppe. Sie haben den ganzen Tag nach der Schule zusammen verbracht. Sind während der Grundschulzeit zur Schule gelaufen, gemeinsam morgens zweieinhalb Kilometer am Wald entlang am Feld.
Mittags sind sie gemeinsam wieder zurückgelaufen. Durch Wind und Wetter und Sonne. Es war so ein Aufwachsen wie in Bullerbü.
Das war wirklich eine gute Zeit für sie.
Als sie Kinder waren, haben sie auch viel zusammengespielt. Sie haben den vier Jahre jüngeren Samuel mit reingenommen und er hat auf jeden Fall von den Älteren profitiert. Und trotzdem ist einfach dieser Abstand von vier Jahren da. Als wir dann begannen Pflegekinder aufzunehmen, hat er sich oft nach den Kindern, die etwa gleich alt oder etwas jünger waren, orientiert.

Annette und Matthias Lauer - Von unserem Weg zu und mit Pflegekindern

4. Vor 24 Jahren habt ihr euch entschlossen, Kinder auf Zeit als Notfallpflegeeltern in eurer Familie aufzunehmen. Wie kam es dazu?

Wir haben im Jahr 2000 geheiratet und es war klar, dass wir Kinder aufziehen wollten.
Wir waren uns aber nicht sicher, ob wir eigene Kinder wollten oder ob wir nicht Kindern ein Zuhause geben wollten, die nicht die Möglichkeit haben, bei ihren Eltern aufzuwachsen.
Um als Pflegeeltern arbeiten zu dürfen, haben wir zuerst die entsprechenden Kurse besucht.
Im Jahr 2001 haben wir dann ein Neugeborenes über das Jugendamt Darmstadt für einige Wochen bei uns haben dürfen. Anschließend wurde das Kleine dann zur Oma nach Marokko gebracht.
Dann kam unsere weitere Ausbildung dazwischen: das Referendariat und das zweite Studium von Matthias.
Und ja, irgendwie haben wir uns dann doch entschieden, dass wir gerne wüssten, wie so die eigenen Kinder aussehen, wie sie sind und wie das so wäre.
So haben wir also vier Kinder bekommen.
Als Samuel drei war – die Zwillinge waren sieben und Tabea war neun – haben die älteren Kinder einen Film von Astrid Lindgren geschaut:
Rasmus und der Landstreicher.
Nach dem Film war Elias ganz aufgewühlt und hat von den Kindern im Waisenhaus erzählt.
„Was ist denn mit den Jungs? Immer werden nur die blondgelockten Mädchen abgeholt. Die Jungs müssen wir holen!“

Viele unserer Freunde haben auch fünf oder sechs Kinder, da meinte Elias:
„Wir sind doch erst vier Kinder und wir können noch welche aufnehmen.“

Letztlich sprang also das Thema Pflegekinder plötzlich wieder durch Elias an.
Inzwischen wohnten wir woanders, hatten uns entsprechend beim Jugendamt Heppenheim gemeldet, hatten dort über ein Jahr den Kurs gemacht, wogen zwischen Dauerpflege oder Bereitschaftspflege ab und entschieden uns dann durch die sehr gut geleiteten Gespräche dort für die Bereitschaftspflege.

Jedes Jahr, also nun seit neun Jahren, sind wir mit unseren Kindern im Sommer alleine in den Urlaub gefahren und haben dort als Kernfamilie neu überlegt, ob die Bereitschaftspflege weiterhin unser Weg ist.
Das war immer ein wichtiger Punkt, eine wichtige Zäsur und auch eine gute Zeit einfach zusammen zu Sechst.
Gemeinsam haben wir dann jeweils entschieden, wie es weitergehen sollte.

5. Wie viele Kinder waren inzwischen bei euch zu Hause „Gäste“?

44. Wir hatten 44 Kinder und Jugendliche.
Von wirklich neu geboren, zweiter Lebenstag, bis 17 Jahre war alles dabei. Dreimal hatten wir Migrantinnen, wobei eine sich sogar später als 21jährig herausstellte.

Wir hatten meistens zwei Kinder, manchmal auch drei oder auch mal nur eins zusätzlich.
Wir haben sie alle sehr konkret immer noch vor Augen, weil wir sowas wie eine Ahnengalerie bei uns zu Hause haben.
Bei uns im Gang hängt von jedem Pflegekind eine kleine Leinwand mit Foto und Handabdruck am Lieblingsspielort.
Für unsere Kinder war und ist das ganz gut zu wissen:
Wer war denn mal da und aus welchem Land waren sie und wie hießen sie, was war da noch mal die Schwierigkeit oder also je nachdem, was die Kinder eben auch wussten.
Wir gehen auch sehr gerne an dieser Galerie vorbei.
Für Samuel war es immer wichtig, weil er derjenige war, der aufgrund seines Alters natürlich diese Verabschiedungen sehr stark mitbekommen hat.
Es fing damals für ihn mit vier Jahren an, da kam das erste Pflegekind sozusagen dann für ihn.
Es war ein Mädchen, das drei Jahre alt war.
Samuel war es auch, der immer mehr begann, diese Leinwände zu sortieren: Mal nach Größe und Alter der Kinder, mal danach, wie lange sie da waren, mal nachdem, wie viel er mit ihnen gespielt hat.

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6. Was habt ihr durch die „Gastkinder“ gelernt, bzw. inwiefern hat euch diese Arbeit bereichert?

Als wir geheiratet haben, war unser Trauspruch Jesaja 54.2: „Mache weit den Raum deines Zeltes und deine Zeltdecke spanne aus. Spare nicht, mach deine Seile lang und stecke die Pflöcke fest.“
Und das haben wir leben wollen.
Wir wurden wirklich gesegnet mit einem großen Haus. Die Mutter einer früheren Schülerin hatte uns nahezu überredet, ihr Elternhaus zu kaufen.
So hatten wir das Glück, genügend Räume zu haben.
Wir wollten schon immer ein offenes Haus haben und mit den Räumen hatten wir nun auch die Möglichkeit, Pflegekinder aufzunehmen.
Diese festgesteckten Pflöcke sind für uns unsere Kernfamilie. Es war klar, wir sind eine Familie. Wir haben vier Kinder, wir sind zu sechst, aber wir haben nun auch Pflegekinder bzw. unsere Kinder haben Pflegegeschwister. Und das waren einfach Kinder auf Zeit.
Die haben wir, solange sie bei uns waren, geliebt und manchmal auch schweren Herzens wieder abgegeben.
Ab und zu fiel es uns auch leicht.
Aber es war klar, wenn wir mit dem ganzen Herz „reingehen“, dann müssen wir auch das ganze Herz irgendwie wieder „rausholen“.
Das ist manchmal schwierig. Wir haben aber die Arbeit als hochwirksam erlebt.
Wir haben uns für diesen Weg entschieden und dann erlebt, dass es funktioniert.

Jetzt hatten die Pflegekinder das Glück, dass wir eigene Kinder hatten.
Bei uns liefen viele Dinge strukturiert und so konnten sich die Pflegekinder einfach in diese Struktur reingeben. Wir hatten da an vielen Punkten keine zusätzliche Erziehungsarbeit, weil sie sich ganz viel von unseren Kindern abgeschaut haben. Und das ist, glaube ich, der Punkt, der dann leichter ist, als wenn man gar keine Kinder zu Hause hat.
Denn da muss man sich ja 100 Prozent immer neu überlegen: Wie erkläre ich jetzt was? Wie bringe ich das rein? Das kann dann sehr viel anstrengender sein.

Also der Sprung zu mehr Kindern war nicht so schwer.

Wir konnten erleben, dass das, was man in Büchern lesen kann, stimmt: Die Kinder sind mit im Fluss.
Die müssen nicht irgendwie extra erzogen werden.
Natürlich gibt es Stellschrauben immer wieder, wo man sehen und wo man den Kindern auch helfen muss, sich neu zu orientieren, weil sie aus Verhältnissen kamen, die auch für uns manchmal irritierend waren.
Für die Kinder waren die Zustände, aus denen sie kamen, normal und sie durften dann lernen, was unser „Normal“ ist.

Die „Gastkinder“ sind bei unseren Kindern einfach mitgelaufen. Da gab es so gut wie keine Ausnahmen. Es lief wirklich sehr sehr rund.
Das zu erleben war Teil unseres Lernens. Es gab für uns auch keine Schranken. Die Kinder mussten nicht aus Annettes Bauch kommen, um unsere Kinder zu sein.

Es gab Fälle, da hätten wir uns auch vorstellen können, wenn es nötig gewesen wäre, dass wir diese Kinder als Dauerpflegekinder wirklich in unsere Familie – eben nicht nur kurzfristig – sondern für immer mit aufnehmen. Es gab da keine Schranke.
Außerdem haben wir gelernt, dass Kinder sehr dankbar sein können.
Wir haben ihre Dankbarkeit gespürt, wenn sie Zeit hatten, in Ruhe aufzuessen ohne Essen wegpacken zu müssen, weil es ja immer wieder neu etwas zu essen gab.
Oder Dankbarkeit, wenn irgendwas schief ging oder wenn sie was nicht konnten, dass sie nicht angeschrien oder weggeschickt werden.

Hin und weg - Ein Familiendrama

7. Ich finde es überaus erstaunlich, wie ihr das alles stemmt und gestemmt habt. Was hat euch die Kraft dafür gegeben?

Also, die Quelle unserer Kraft ist ganz klar unser Glaube. Unser Glaube an Gott und daran, dass er jeden Menschen geschaffen hat.
Das schließt auch die Kinder, die wir aufgenommen haben und auch deren Eltern ein. Wir hatten das Wissen, dass auch die Eltern oft Opfer sind und nicht irgendwelche „Monster“.
Unter allen Kindern haben wir auch nie „Monster“ erlebt.
Da Gott jeden Menschen liebt, war er das Vorbild dafür, diese Kinder eben auch zu lieben. Egal ob sie hübsch anzusehen waren oder mit verrotzter Nase und dreckigen Klamotten bei uns ankamen.

Es gibt außerdem immer wieder Dinge, die dann doch nicht so funktionieren, wie ich sie mir in meiner Idealvorstellung denke.
Wir machen auch etwas falsch, entscheiden falsch, machen zu viel oder zu wenig.
Dabei zu wissen, dass Jesus der ist, auf den wir alles werfen können, der uns unsere Fehler verzeiht und wir damit auch dann freier wieder nach vorne sehen können, wenn irgendwo irgendwas schief gegangen ist, ist eine große Kraftquelle.

Eine Quelle der Kraft war und ist aber auch die Gemeinschaft mit anderen Christen und das Zusammensein mit Freunden.
Zu wissen, wir sind nicht alleine.
Geholfen hat auch der vom Jugendamt unterstützte Austausch mit anderen Pflegeeltern.

Um aber nochmal auf Gott zurückzukommen:
Ja, wir denken, dass das Licht, das von Gott auf uns strahlt, man auf unserem Antlitz eben auch sehen oder uns abspüren kann und dass das eben den Kindern auch zugutekommt.
Gerade wenn sie aus unschönen und menschenunwürdigen Situationen kommen, können wir sie Liebe und Würde erfahren und spüren lassen durch die Liebe, die wir selbst von Gott empfangen haben.

Eine absolute Quelle der Kraft ist auch Humor. Ohne Humor läuft, glaube ich, überhaupt nichts. Es gibt immer wieder Dinge, über die wir noch im Nachhinein irgendwie lachen müssen.
Und zwar nicht unbedingt, weil sie wirklich so witzig, sondern weil sie auch skurril sind.
Weil sie so verrückt sind, dass man einfach darüber auch so ein bisschen lachen muss. Auch über uns natürlich. Jedes Verhältnis ist ja immer anders.
Das Verhältnis von uns, zu unseren eigenen Kindern ist anders, das Verhältnis zu den Pflegekindern auch, ebenso das Verhältnis zwischen unseren Kindern und den Pflegekindern. Es war immer ganz unterschiedlich und teilweise auch wirklich lustig.
Mit Fröhlichkeit und Humor sind wir auch mit den eigenen Kindern gut weitergekommen.

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8. Gibt oder gab es ein Schlüsselerlebnis in eurem Zusammensein auf Zeit mit Kindern und Jugendlichen?

Vier Situationen fallen uns dazu konkret ein.

Die ersten drei sind schneller erzählt.
Der vierte ist schwieriger.
Wir hatten einen Jungen, der in Obhut genommen wurde, weil die Mutter von ihrem Freund zusammengeschlagen wurde. Und zwar so, dass sie im Krankenhaus mit gebrochenem Kiefer war.
Schon ihr erster Mann, der Vater des Jungen, hatte sie körperlich attackiert, sodass sie fast gestorben war.
Er war dann im Gefängnis. Nun war sie mit dem zweiten Lebensgefährten wieder in solch einer Situation.

Die Mutter hat sich letztlich auf der Suche nach Liebe für diesen schlagenden Mann entschieden und gegen ihr Kind.
Sie hat nicht geschafft, sich von dem gewalttätigen Mann zu trennen, sodass der Junge dann in eine Wohngruppe gekommen ist.
Das hat uns damals natürlich sehr mitgenommen, aber da haben wir auch viel gelernt.
Über menschliches Verhalten und über diese Suche nach Liebe, auch wenn man dabei leidet und vielleicht sogar zugrunde geht.

Dann hatten wir einen Jungen, 13 Jahre alt, sehr schüchtern und ängstlich, intelligent, ganz ruhig.
Der hat gesagt, er geht nicht mehr nach Hause und hat sich selber in Obhut nehmen lassen.
Er wollte nicht mehr nach Hause, solange die Mutter nicht sagt, dass sie ihn nie wieder schlägt, denn er wollte nie wieder geschlagen werden.
Wir dachten: „Das ist ein Fall, der ganz schnell vorbei ist.“
Die Sache wird im Gespräch geklärt, die Mutter sagt, sie macht es nicht mehr und der Junge kann zurück. Letztlich war es aber so, dass die Mutter gesagt hat: „Nee, stimmt nicht, der Junge lügt.“
Dieser Junge war dann Ein- und ein Dreivierteljahr bei uns, bis er schließlich in eine Wohngruppe gekommen ist.
Das war sehr, sehr beeindruckend, wie viel Kraft in so einem jungen Menschen stecken kann, egal wie ängstlich und schüchtern er sonst eben ist.
Bei diesem Jungen war es auch so, dass wir schulisch darum gekämpft haben, dass er erst einmal Notenschutz hat, um zur Ruhe zu kommen. Da war an der Schule fast ein Unverständnis darüber, wie wir als Bereitschaftspflegeeltern, die das Kind voraussichtlich nur kurz haben, uns so reinhängen, dass er diese unterstützende Hilfsmaßnahme bekommt.
Die konnten das überhaupt nicht nachvollziehen, dass wir so für dieses Kind kämpfen. Das hat uns damals schon sehr geschockt. Also dass es überhaupt anders sein könnte, kam uns überhaupt nicht in den Sinn.
Damals wurde gerade auch für Matthias klar: Wir sind Fürsprecher für die Kinder, die bei uns sind. Das war noch mal ein ganz starkes Erlebnis.

Ein eindrückliches Erlebnis war auch, als ein 12 oder 13jähriges Mädchen zu uns kam, die aufgrund irgendeines Ereignisses zu Hause bei der Mutter nicht mehr bleiben konnte.
Die Eltern waren getrennt.
Als der Vater hörte, dass seine Tochter in einer Pflegefamilie gelandet ist, hat er sich in Absprache mit dem Jugendamt sofort in sein Auto in Belgien gesetzt, ist die ganze Nacht durchgefahren und hat sie frühmorgens um sechs oder sieben bei uns in die Arme geschlossen und mitgenommen.

Und dann gibt es den vierten Fall, der uns am meisten bewegt hat und auch noch jetzt beschäftigt.
Wir haben ein neunjähriges und ein zwölfjähriges Mädchen aufgenommen, weil die Mutter im Krankenhaus war.
Es war irgendwie klar, sie bekommt ein Baby und so lange sind die beiden Mädchen dann bei uns. Der Vater der Mädchen ist schon vor vielen Jahren verstorben, als er überfahren worden ist.
Die Mutter hatte jemanden Neuen kennengelernt und hat ihn dann in einer eigenen Zeremonie auch geheiratet. Wegen Problemen mit den Pässen war eine staatliche Trauung in Deutschland nicht möglich.
Als die Mutter wieder schwanger wurde, haben sich die beiden Mädchen auch auf das Baby gefreut. Es gab aber keinen richtigen Kontakt vom Krankenhaus mit dem Jugendamt. Da gibt es ja auch einfach Regelungen und Gesetze. Und plötzlich hieß es aber, das Baby ist geboren und wird jetzt dann kurz darauf auch entlassen, aber die Mutter noch nicht.
Da haben wir überlegt.
Unser Elias hatte sich schon länger ein Babypflegekind gewünscht.
So haben wir gesagt: „Gut dann nehmen wir doch einfach noch dieses Neugeborene dazu auf. Zum einen kennt es die Stimmen der Schwestern und die Schwestern haben zwar ihre Mama gerade nicht, aber sie können jetzt einfach dann sich ein bisschen mit vielleicht um das neue Geschwisterchen kümmern.“
Und dann gehen alle drei gemeinsam wieder zu ihrer Mama nach Hause, sobald sie aus dem Krankenhaus entlassen wird.
Doch plötzlich kam ein Anruf aus dem Krankenhaus:
„Packen Sie die Kinder ein, die Mutter stirbt.“
So begann eine unglaublich bewegende Zeit.
Es war unsere Aufgabe, die Trauerphase mit den beiden großen Kindern zu durchleben.
Zum Glück wurden wir sehr, sehr gut vom Jugendamt unterstützt. Es wurde vom Amt auch für eine Trauerbegleitung gesorgt.
Es war wirklich eine sowohl schwierige als auch eine ganz wichtige Zeit für uns.
Für die beiden Mädchen war es schwierig, jetzt als Vollwaisen in der Welt zu stehen und plötzlich diese Verantwortung für dieses Baby zu spüren.
Aber es war wirklich schön, dass alle Kinder sich mit um das Neugeborene gekümmert haben.

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Die beiden großen Mädchen waren insgesamt ein Jahr lang bei uns, bis sich eine Pflegefamilie fand, die tatsächlich beide Mädchen aufgenommen hat…
Das gibt es wirklich selten.
Wir sind von Herzen dankbar, dass es Menschen gibt, die Kinder aufnehmen, die eben nicht nur Babys oder Kleinkinder sind, sondern die auch bereit sind ältere Kinder aufzunehmen.
Gerade wenn es wirklich höfliche, freundliche Kinder sind, die außer dem Tod der Eltern so nichts Schlimmes an Geschichte erlebt haben, aber eben durch den Tod der Eltern alleine sind.
Zu wissen, dass es den beiden gut geht, das ist wirklich ein sehr gutes Gefühl.
Es ist allein deshalb schon das nachhaltigste Erlebnis, weil das Baby insgesamt anderthalb Jahre bei uns war, bis es dann beim Vater leben konnte.
Er stammte aus einer anderen Kultur, wo es nicht üblich war, als Mann ein Kind zu versorgen. Das lernte er bei uns, weil er immer wieder zu uns nach Hause zu Besuch kam. Er hat alles gelernt. Inzwischen ist er uns zum Freund geworden.
Die Kleine darf immer wieder mal ein Wochenende bei uns sein.
Wir freuen uns wirklich über den Kontakt mit ihm und mit der Tochter, die inzwischen jetzt auch vier Jahre alt ist. Unsere Kinder sind darüber auch total glücklich. Das ist wirklich, wirklich schön.

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9. Konntet ihr Veränderungen bei den Kindern nach der Zeit bei euch wahrnehmen?

Ja, gerade bei den letzten beiden Kindern konnten wir das wahrnehmen. Das waren zwei Mädchen, die mit vier Jahren gekommen und mit fünfeinhalb gegangen sind.
Sie kamen aus schwierigen Verhältnissen, doch sind sehr fröhlich zu einer Pflegefamilie gegangen. Es war toll zu sehen, wie sie sich in diesen anderthalb Jahren bei uns und auch in der Zeit danach verändert haben. Einfach zum Guten hin. Wie sie ein Mensch geworden sind. Wie sie eine Würde erhalten haben. Einfach sie selber sein zu dürfen und Kind sein zu dürfen, das ist unglaublich schön, das zu erleben und mitzubekommen.

Habt ihr noch etwas auf dem Herzen für die Leser dieses Blogs?

Also erstmal: Cool, danke fürs Lesen.
Toll, dass ihr euch für dieses Thema Pflege, Kinder, Bereitschaftspflege interessiert. Wir haben wirklich viele, viele wunderschöne und manchmal auch traurige Erfahrungen gemacht durch die Arbeit und durch das Zusammenleben mit den Bereitschaftspflegekindern.
Wir haben uns dann entschieden, als Ehepaar eine zweijährige Weiterbildung im Bereich Traumapädagogik zu machen, weil wir zunehmend gemerkt haben, dass die Pflegekinder in verschiedenen Bereichen traumatisiert sind.
Sie brauchen nicht nur Schutz, wenn sie von ihren Eltern wegmüssen. Sondern sind einfach auch stark beeinflusst durch das, was sie bisher in ihrem Leben erfahren haben.
Und das war dann eben nicht nur ein einmaliges Erlebnis, sondern ein komplexes, mehrfaches Erleben von schlimmen Situationen.
Durch diese Fortbildung haben wir für das, was wir jahrelang schon tun, auch Begriffe gefunden. Solche Begriffe zum Beispiel wie „der sichere Ort“.
Das, was wir also den Kindern bieten, einen sicheren Ort, das können sie bewusst lernen zu finden und wir können ihnen das zeigen, einen sicheren Ort zu erleben. Sie können lernen, sich im eigenen Denken, in ihrem Kopf, einen sicheren Ort zu suchen, aber auch dann konkret an einem sicheren Ort zu leben.
Natürlich sind wir keine Therapeuten und arbeiten an dem Punkt auch nicht als solche, aber wir sind 24 Stunden und das sieben Tage die Woche und so weiter einfach für sie Gesprächs- und Lebenspartner und auch absolute Vertrauensbasis. Und innerhalb von diesem unerschütterlichen Vertrauen, was die Kinder uns oft entgegenbringen, innerhalb dessen gibt es Handlungsmöglichkeiten. Für die haben wir jetzt durch diese Fortbildung zum Traumapädagogen Handwerkszeug bekommen. Das hilft uns sehr weiter, auch die Dinge, die wir schon erlebt haben, noch tiefer und noch gründlicher zu verstehen.

Danke euch von Herzen für die bewegenden Geschichten und das Teilen eurer Herzensanliegen!!

Mehr Glauben leben?

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Vielleicht war es vor allem mein älterer Bruder, der mich so nervte. Er, dem zwei Drittel des Erbes zustanden – mir nur ein Drittel. Seine ständige Kontrolle, ob ich alles richtig machte. Seine Besserwisserei und Überheblichkeit.
Vielleicht kitzelte mich auch der Reiz des Neuen, des Fremden und auch des Verbotenen.
Im Nachhinein weiß ich wirklich nicht mehr, was mich dazu gebracht hatte, die Heimat zu verlassen.
Doch ich tat es.

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