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Der Sack im Schnee

Daniela Irle

30. März 2021

Schau mal, die Gänse dort!“ Tante Anna zeigt sie ihren Enkeln.
Nachdenklich wandert ihr Blick zurück in eine Zeit, die schon lange her ist, doch unvergessen bleibt.

Ein Tag in Sibirien, einer von vielen.
Sie ist eine von acht Frauen, die durch den Schnee wandern, um schwere Arbeit leisten zu müssen. Bis zu 14 Kilometer täglich legen sie zurück.
An ihren Füßen tragen sie „Lapki“, Schuhe aus Baumrinde und Lappen. Eine freundliche russische Frau hatte ihr gezeigt, wie man diese herstellen konnte.
Der Schnee knirscht unter diesem Schuhersatz, müde, ausgehungert und langsam bewegen sich die Frauen hintereinander im Gänsemarsch dem Wald zu. Sie müssen als Frauen – ausgemergelt und kraftlos – Bäume fällen, zurechtsägen und in Kubikmetern stapeln.
Der geringe Lohn hängt von den gesammelten Kubikmetern ab.
Besonders die Bäume mit den starken Verzweigungen unten stellen sie vor eine schier unüberwindbare Herausforderung.
Der Weg ist schmal, der Schnee um sie herum tief.
Sie nutzen die Schritte der vorderen Frauen, die den Weg etwas geebnet haben.
Tante Anna geht als letzte. Wie soll es nur weitergehen?
Auf der Reise hierhin war ihr einziger Beutel mit den wenigen Habseligkeiten und ein wenig Nahrung verlorengegangen.
Dick hatte sie ihren Namen darauf geschrieben. Trotzdem war und blieb er verschwunden.
Alle anderen Frauen hatten ihre Beutel zurückerhalten – nur sie nicht.
Wie sollte sie sich und ihre kleine Familie versorgen?
Jede der Frauen hungerte, jede Frau sah nach sich selbst.
Mühsam setzt sie Schritt vor Schritt.
Bis sie fast stolpert. Was ist das?
Ein Sack liegt im Schnee. Verwundert bückt sich Tante Anna, greift nach dem schweren Stoffbeutel.
Die anderen Frauen halten an.
Wie konnten sie diesen Sack übersehen haben, obwohl doch jede von ihnen mit gesenktem Blick Schritt für Schritt denselben Weg gegangen war?
Tante Anna öffnet den Beutel: Ein ganzer Sack voll sauber gepulter trockener Erbsen!
Neidisch wird sie von den anderen Frauen umringt, gierig treffen ihre Blicke auf die Erbsen.
Warum hatte keine von ihnen dieses unschätzbar wertvolle Gut gefunden?
Tante Anna füllte jeder der Frauen Erbsen in die ausgestreckten, geöffneten Hände.
Nachdenklich sagt sie: „Ich glaube, Gott zeigt mir, dass er mich nicht vergessen hat.
Ihr habt eure Habseligkeiten zurückerhalten. Ich nicht. Aber mein Gott versorgt mich trotzdem.“

Wenn Tante Anna dies ihren Enkeln erzählt, so erklärt sie ihnen, wie die Erbsen sie durch den Winter gebracht haben. „Mit ein bisschen Kartoffeln oder mit diesem und jenem“ haben die Erbsen sie vor dem Tod bewahrt.

 

Eine der beeindruckendsten Frauen in meiner Familie war sie für mich.
Die Mutter meiner Tante. Tante Anna.
Mit fast 98 Jahren ist sie vor wenigen Jahren friedlich eingeschlafen und gestorben.
Für mich war sie eine der schönsten Frauen, weil ihr Gesicht eine leuchtende Hoffnung, Zufriedenheit,
Dankbarkeit und Glück ausstrahlte.
Dabei hätte sie allen Grund gehabt verbittert und traurig zu sein.
Diese wahre Geschichte hat mir schon oft Mut gemacht. Danke Gott für Tante Anna.

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