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Frido

Daniela Irle

20. November 2022

Wir waren gerade an der nördlichen Spitze Dänemarks angekommen, als mich plötzlich in diesem Sommer die Erinnerungen übermannten.

Da stand ich am brausenden Meer im starken Wind, sah meinen Kindern zu und dachte an den Urlaub mit meinen Eltern und meinen vier Geschwistern in Dänemark zurück.

In dem alten Renault Espace waren wir damals alle mitsamt viel Gepäck zum ersten Mal in ein dänisches Ferienhaus gefahren.

Ich erinnere mich, dass wir außergewöhnlich schönes warmes Wetter hatten und wir nahezu immer draußen waren.
An einem Tag damals mitten im Urlaub, erhielt ich unverhofft mit knapp dreizehn Jahren einen eiligen Dolmetscherauftrag.

Mein Bruder kam zitternd, weinend und krampfend aus dem Wasser gelaufen.

Er hatte Bekanntschaft mit einer Feuerqualle gemacht und konnte sich nicht beruhigen.

Frido war schon immer sehr dünn gewesen und wirkte wie das klappernde Elend selbst.

Es dauerte nicht lange, da begann er hyperventilierend zu krampfen, so dass schnell klar war, dass er Hilfe brauchte.

Wahrscheinlich würde ich den jungen Dänen jetzt noch wiedererkennen, der sich hilfsbereit zur Verfügung stellte und uns half, den Weg zum nächsten Krankenhaus zu finden.

So gut ich konnte, erklärte ich mal auf Englisch, mal auf Deutsch.

Dass der Däne, der sich eisern am Handgriff festhielt, im Auto ruhig sitzen blieb, grenzte an ein kleines Wunder. Noch nie zuvor war mein Vater so durch die Straßen gerast. 

Zum Glück erreichten wir rasch einen Arzt und mit ruhigem Zureden und einer Plastiktüte über der Nase, konnte meinem Bruder Gott sei Dank schnell geholfen werden.

Am 30. September dieses Jahres wäre er 39 Jahre alt geworden. 

Sein Tod liegt inzwischen 19 Jahre zurück. Und doch ist vieles so nah, als wäre es letzte Woche gewesen.
Der Regen auf dem Friedhof, der Regenbogen.

Die Menschenmassen, die trauernden Soldaten in der Friedhofskapelle, die betroffenen Gesichter, seine Freunde im Anzug mit weißen Handschuhen als Sargträger – und natürlich er selbst im offenen Sarg.

Nie werde ich den Anruf in der Nacht vergessen, danach die Fahrt mit der Bahn mit Sonnenbrille zurück nach Hause.
Die Stimme meiner Freundin Barbara am Telefon im Zug, die laut weinte, den Schmerz fühlte und mich in dem Moment trug.

Doch erst jetzt, 2022, waren wir so weit, dass ein Grabstein ausgesucht werden konnte.

Warum es so lange gedauert hat?

Vielleicht war es zu schmerzhaft, vielleicht war einfach nichts gut genug.

Frido *30.09.1983 + 20.08.2003. Die Liebe bleibt.

So ist es in den Grabstein gemeißelt.
Einen Nachnamen braucht in der Gegend keiner. Es gab dort niemand anderen, der so hieß.

Einmal hatten meine Eltern einen Gast, der den gleichen Namen trug.
Irgendwo muss das Foto zu finden sein von dem älteren großen Fridolin und dem kleinen, der mein Bruder war.

„Eltern können so grausam sein“, gab einer der Bundeswehrsoldaten zurück, als mein Bruder sich ihm vorstellte.

Inzwischen gibt es zwei, von denen ich weiß, dass sie nun so heißen.

Weil ihre Eltern meinen Bruder gekannt haben.

Was war das für ein Mensch, nach dessen Tod viele Jahre später Menschen ihre Kinder benennen?
Über den sein damals engster Freund mal sagte, dass er neben ihm beerdigt werden möchte.

Manchmal frage ich mich, ob ich ihn überhaupt richtig gekannt habe.

Als ich diesen Sommer in meiner Heimat am Weserstrand meine Kinder beobachtete, sprach mich unerwartet eine junge Frau an, die ich zuletzt als meine Nachhilfeschülerin vor vielen Jahren gesehen hatte. Ich weiß gar nicht, warum und wie wir auf Frido zu sprechen kamen.

Vielleicht, weil wir uns damals nicht gesehen und kein Wort gewechselt hatten.

Sie hatte das Bedürfnis, sich mit mir über ihn auszutauschen. Sie erzählte, wie anziehend er auf sie gewirkt und wie liebevoll er ihr einmal mit einem Witz aus der Schüchternheit herausgeholfen hatte.

Mir ist auch danach, mit Menschen zu sprechen, die ihn kannten. Mit seinen Freunden, den Soldaten, die mit ihm in Afghanistan gewesen sind. Und sie zu fragen:
Was hat Frido für dich ausgemacht?

Denn dass er bei vielen einen besonderen Eindruck hinterlassen hat, ist keine Frage.

Viele der unglaublich vielen Menschen auf seiner Beerdigung hatte ich noch nie gesehen.

Andere schon.

Seinen Grundschullehrer zum Beispiel, der auch meiner gewesen war.

Inzwischen könnte ich das Gespräch mit den meisten wahrscheinlich aushalten.

Die Tränen würden im besten Fall trotzdem fließen – auch das konnten und können sie nicht immer.

Es gibt Menschen, bei denen kann man nicht trauern. Und erst recht nicht weinen.

Denn sie halten es nicht aus oder haben kein Verständnis.

Ich erinnere mich an eine Begegnung wenige Wochen nach seinem Tod, bei der mich eine Bekannte salopp fragte, ob ich in schwarz wegen meines Bruders gekleidet sei.

Das klang hart und ich fühlte mich in meinem Schmerz lächerlich gemacht und zutiefst unverstanden.

Damals erhielt ich Karten von Menschen, die von ihrem eigenen Verlust erzählten.

Und weil sie wussten, wie es sich anfühlt, schrieben sie mir.

Ich erinnere mich, dass ich selbst jemandem einen Brief schrieb und mich dafür entschuldigte, dass ich mich in einer Trauerzeit bei ihr nicht einfühlsam genug gezeigt hatte.

 

Tatsächlich ist der Verlust eines geliebten Menschen wohl so etwas wie Eltern-Sein, Mutter-Werden, Schwanger sein, … das man nur schwer nachvollziehen kann, wenn es nicht selbst durchlebt wurde.

Eine der Karten, die mich erreichten, hat mich über die Jahre begleitet.

Sie stammte von einer Amerikanerin, die ich erst kurz zuvor über andere Freunde im Ausland kennengelernt hatte.

Sie erzählte, dass sie ihren Verlobten vor vielen Jahren bei einem Flugzeugabsturz verloren hatte.

Und schrieb: „ I don’t know what you’re going through. But I can tell: God ist good.“
(Ich weiß nicht, was du durchmachst. Aber ich kann dir sagen: Gott ist gut.)

Sie war eine der Personen, die meine laut geäußerten Sorgengedanken mitbekommen hatte.

„Ich habe Angst, dass ihm etwas auf dem Motorrad zustoßen könnte, wenn er aus Afghanistan nach Hause kommt.“

Auch heute noch verstehe ich nicht ganz, was diese Vorahnung mir sagen sollte. 
Denn so war es gekommen.

Nur kurz zuvor hatte Frido Anschläge und Gefahren als Soldat in seiner Zeit in Afghanistan überlebt.

Da war der 30. März 2003. Mein Bruder saß mit der Gitarre eines italienischen Soldaten auf der Fensterbank und trällerte vor sich hin. Für alle unvermittelt sprang er plötzlich wie von unsichtbarer Hand gezogen auf und verließ das Fenster. Sekunden später krachte es und von dem Fenster war nichts mehr übrig. 

Eine von den Taliban abgefeuerte Rakete hatte wenige Meter von der Unterkunft entfernt eingeschlagen, das Fenster durchsiebt und alles davor Liegende zertrümmert.

Oder der Tag, an dem er sofort meine Mutter anrief. Zwei seiner Kameraden waren mit dem Patrouillenfahrzeug auf eine Mine gefahren, einer war dabei ums Leben gekommen.
„Mama, ich habe tausend Schutzengel. Genau diese Strecke bin ich so oft gefahren!“,
platzte es aus ihm heraus.

Er war sicher noch mit genug jugendlicher Naivität ins Soldatensein gestartet, doch mit ausreichend Bewusstsein, dass sein Ende nahe sein könnte. So suchte er vor seiner Abreise einen Jugendpastor auf, um sein Gewissen durch Beichten zu erleichtern und sein Leben vor Gott zu bereinigen.

Während seiner Zeit im zerstörten Land stand über ihm der Bibelvers aus Psalm 91, den sein Großvater ihm mitgegeben hatte: „Wenn tausend zu deiner Rechten fallen und zehntausend zu deiner Linken, so wird es dich doch nicht treffen!“

Auch uns, die wir uns große Sorgen um ihn machten, begleitete und tröstete der Vers aus dem gleichen Psalm:

„Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen“.

Doch wo waren die Engel gewesen, als er drei Tage nach seiner heiß ersehnten Ankunft zu Hause auf der Strecke zu seiner Freundin tatsächlich mit dem Motorrad verunglückte?

Wo eigentlich keine Gefahr drohte und bis heute niemand weiß, warum er vom Weg abgekommen ist.

Wo waren sie? Die Engel, die ihn auch schon vielfach vor seinem Unfall beschützt hatten.

Bei seinen ganzen sportlichen Wagnissen, den Unfällen auf der Halfpipe, dem Rollerfahren in angetrunkenem Zustand und vielem anderen, was ich zum Glück nicht mitbekommen habe.

Er hatte riskant gelebt. Vielleicht tatsächlich immer so, als ob es sein letzter Tag sein könnte.

Er verschenkte großzügig Geld, gab es selbst schnell aus – als ob er ahnte, dass er es nicht zu horten brauchte.

Oft klingt der Song in meinem Kopf, wenn ich an ihn denke: „Forever young – I want to be, forever young.”

Nach allem, was ich über den Himmel und von Menschen, die Nahtoderfahrungen gemacht haben, gelesen habe, gibt es dort keine alten Menschen.

Und so stelle ich ihn mir dort vor: Jung, stark, fröhlich lachend, tanzend, glücklich.

So wie er auch bei uns war, wenn er glücklich war. Voller Lebensfreude.
Mit Salto aus dem Stand.

Ein Moment, in dem er so gar nicht glücklich wirkte, war,
wenn er als Schüler bruchrechnen sollte.

Da saß er wie ein lustloses Häufchen neben mir und es war zäher als zäh, ihm die Vorteile dieser Rechnungen nahezubringen, wenn ich ihm als große Schwester versuchte bei den Hausaufgaben und vor Klassenarbeiten zu helfen. Ebenso hasste er es aufzuräumen und bezahlte dafür lieber später seine kleinen Schwestern.

In den drei Tagen zwischen Ankunft zu Hause und Tod, machten ihm die vielen Kriegsbilder und -szenen so zu schaffen, dass er Tag und Nacht die Gegenwart und das Gespräch mit seinen Freunden suchte. Er war stark verändert durch alles Erlebte, doch die Lebensfreude und seinen Humor hatte ihm auch die Zeit dort nicht rauben können.

Wahrscheinlich wäre es ihm unangenehm gewesen, wenn ich es damals geschrieben hätte.

Aus seiner jetzigen Warte ist es ihm sicher egal, auch wenn ich das Folgende erzähle,
an das sich meine Mutter immer wieder gern erinnert:

Frido war etwa drei Jahre alt und begleitete meine Eltern beim Einkaufen. Aus dem Einkaufswagen heraus schmetterte  er laut ungeachtet der vielen Menschen um ihn herum mit seiner engelsgleichen Kinderstimme ein Lied aus der Kinderstunde:

„Ich freue mich, ich bin ein Gotteskind, … das ist das Schönste, das es gibt.“

Vermutlich erregte er mit seinen blonden kinnlangen Locken, mit denen er ständig für ein Mädchen gehalten wurde, viel schmunzelndes Aufsehen.

Die Locken blieben, doch später nicht mehr erkennbar – das Blonde wich dem Hellbraun.

Das Singen blieb auch. Mit schwarzer Fender-Gitarre an den unterschiedlichsten Orten und mit unterschiedlichsten Inhalten.

Eins meiner liebsten musikalischen Erlebnisse mit ihm ist, als wir eine Spontan-Band mit ihm, meiner jüngeren Schwester und einem seiner vielen Freunde zusammenstellten und im Gemeindehaus einen Abend gestalteten.

Es verband uns und gemeinsam gaben wir alle die Energie, die uns zur Verfügung stand, in die Musik und den Gesang.

 

Nun sitze ich hier und schreibe endlich, was so lange in mir darauf gewartet hat. Und während ich schreibe, schickt die Schwester, die ich gerade erwähnte, Fotos von sich und dem Café, in dem sie eingekehrt ist: Dem Café Fridolin.

Ein bisschen hat jede von uns vier Schwestern ihren Weg gefunden,
mit dem Schmerz umzugehen.

Wir wohnen leider zu weit auseinander, um immer Pizza und Eis an Fridos Geburtstag gemeinsam zu vertilgen (Er konnte locker einen halben Liter Eis leeren und hatte oft sein Taschengeld für Eis auf den Kopf gehauen). Aber wir melden uns immer bei einander an seinem Geburtstag.

Sicher würden meine Schwestern von anderen Erlebnissen mit Frido schreiben.

Doch so, wie jeder Mensch anders trauert, so verbindet auch jede von uns die ganz eigene Geschichte mit ihm.

Vermutlich würde jedoch jeder, der ihn gut kannte, das gleiche sagen:

Dass er ein Mensch war, der geliebt hat: Das Leben und die Menschen.

Dass er ein Mensch war, der Mitgefühl und ein offenes Ohr hatte und mit dem man Pferde stehlen konnte. Der gerne lachte und Freude verbreitete.

Warum musste er mit knapp zwanzig Jahren gehen?

In ihrer Ratlosigkeit, dem Fragen und Zweifeln im Moment des Schocks und der Trauer, ging eine Freundin unserer Familie damals in der Sommerhitze in ihren Garten und fragte Gott, was denn das alles sollte.

Was sie hörte, spendet mir bis heute Trost und Kraft:

„Er wollte so gern nach Hause. Nun ist er dort angekommen.“

Und so bleibt mir, mich dankbar zu erinnern, was wir mit und an ihm gehabt haben.

Es als Geschenk zu betrachten, seine Schwester gewesen sein zu können.

Jeden Moment der Berührung mit ihm zu feiern.

Mit Ehrfurcht zu erkennen, dass uns alles hier nur geliehen ist.

Und dass jeder Mensch seinen eigenen Zeitpunkt hat zu gehen.

In der Erwartung eines Wiedersehens zu Hause.

Wo es kein Leid mehr gibt, keine Tränen, keinen Schmerz.

Wo alles Alte vergangen ist und unvorstellbar Wundervolles auf uns wartet.

Woher ich das weiß?

 

Weil ich glaube, was in der Bibel steht:

Dass wir hier keine bleibende Heimat haben,

dass es mehr als das Leben hier auf der sichtbaren Erde gibt und dass Jesus der Weg zu dem Vater und dem endlosen perfekten Leben bei ihm ist. 

Ach so, und die Engel? Während ich hier sitze und schreibe, denke ich, dass sie dort waren.

Dass sie es waren, die ihn mit zu seinem neuen endgültigen Zuhause genommen haben.

Vielleicht haben sie auch uns besucht und uns geholfen, die schlimme erste Zeit zu überstehen.

 

 

Liebsten Dank an meine Familie für die emotionale Unterstützung und ganz besonders Schwester Evi für alle Fotos!!

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