Tabea und der Nicht-Tod
Daniela Irle
17. November 2023
Wir sitzen zusammen in ihrer Küche. Und reden. Über ihre Geschichte, die so anders und doch trotzdem verbindend ist. Wie es war mit ihrem Bruder und was es mit ihr so gemacht hat.
Tabea, die ich kennengelernt habe, weil ich einfach gehört habe, dass ich sie wegen eines Projekts anrufen sollte. Eine leise, wenn auch klare und unmissverständliche göttliche Stimme klang in meinem Ohr: „Ruf dort an.“
So haben wir über die Zeit einiges voneinander erfahren. Wir sind beide die Ältesten von fünf Geschwistern und wir beide haben einen Bruder verloren.
Ich bin jedoch erstaunt, wie anders manches bei uns verlaufen ist.
Hatte ich doch zunächst starke Verlustängste entwickelt und Tabea überhaupt nicht.
Hinzu kamen überraschende Details ihrer persönlichen Geschichte, die ich nie vermutet hätte.
Todesdiagnosen, die über ihrem eigenen Leben hingen und nie eingetroffen sind.
Angekündigte Beschwerden, die wundersam ausblieben.
Als Tabea zwei Tage alt war, wurde ein bösartiger Tumor bei ihr festgestellt und rausoperiert.
Mit der Prognose, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte.
Stimmte nicht.
Und das, obwohl ihre Eltern die angeblich unabdingbare Chemotherapie abgelehnt hatten.
Später kamen noch andere gruselige Voraussagen, die sich jedoch auch nicht erfüllten.
Hatte sie jemals Angst zu sterben?
Nein.
Hatte sie Angst, dem Tod noch einmal zu begegnen?
Nein.
Da gab es Rubi*. Rubi war ihr bei einem großen Jugendevent aufgefallen, weil sie immer wieder auftauchte, um sich auszuruhen. Auf Tabeas Drängen hin, ließ sich Rubi später untersuchen.
Alles war voller Metastasen. Der ganze Körper. Aber Rubi, deren Mutter bereits mit Krebs gestorben war, wollte nicht auf die Palliativstation gehen.
Tabea war ausgebildete Kinderkrankenschwester und hatte ihre nachhaltigsten Erfahrungen auf der Krebsstation gemacht.
Sie beschloss, dass Rubi zu ihnen, ihrem Mann Christian und ihr, nach Hause kommen könnte.
Rubi kam und blieb von März bis Juni. Die Chemotherapie hatte ihr stark zugesetzt und ihr Körper konnte nicht mehr lange durchhalten. Sie wollte noch nicht gehen, am liebsten wäre es ihr gewesen, nach dem Sterben zurückgeholt zu werden.
Jesus hatte ja die Kraft Tote aufzuerwecken und hatte seinen Jüngern angekündigt, dass diese noch viel größere Wunder verbringen würden.
Daran glaubte Rubi und erwartete, dass das bei ihr sicher kein Problem sein würde.
„Tabea, ihr holt mich dann einfach zurück“, so hatte sie es sich in etwa gewünscht.
An dem Abschiedstag im Juni musste Tabea das Haus verlassen und fragte sich beim Heimkommen, ob sie vielleicht schon zu spät gekommen sei. Ihr kleiner Gedankenaustausch mit Jesus an der Haustür verriet ihr, dass er Rubi schon zu sich geholt hatte.
Eilig betrat Tabea Rubis Zimmer, in dem die Schwester der Patientin am Bett saß. Rubi atmete noch.
Doch Tabea spürte – sie selbst ist nicht mehr hier.
Eine heilige, ja freudvolle Atmosphäre breitete sich im Raum aus, während Rubi ihr Leben aushauchte.
Und es war keine Frage, dass Rubi nicht wirklich zurück in das Leben hier in dem Zimmer und dieser Erde zurückgeholt werden wollte.
Ich bewunderte Tabea für ihren Mut und ihre Hingabe, eine junge Frau im Sterben zu begleiten. Ihre Gewissheit und ihre Stärke.
Ich fragte mich, ob es sein konnte, dass man den Tod selbst gar nicht mehr mitbekam, wenn Seele und Geist schon vorher zu Gott wanderten.
Mit Rubi war Tabea der Tod nicht zum ersten Mal so nah gekommen.
Als Tabeas Bruder, Emmanuel, starb, war sie erst neun Jahre alt gewesen. Emmanuel, der Zwillingsbruder ihrer jüngsten Schwester.
Es war seltsam an dem Tag damals. Ein Verwandter holte sie von der Schule ab.
„Häh, was machst denn du hier?“, fragte sie ihn verwundert.
„Emmanuel ist im Himmel.“
Emmanuel, der erst sechs Monate alt war und munter und fröhlich?
Wie konnte das sein?
Sprachlosigkeit, Entsetzen – das Gefühl, als ob ein Bulldozer über ihr Herz gefahren sei.
Hilflosigkeit, Fragen. Was war geschehen?
Tabea fühlte sich klein und hilflos auf dem Weg nach Hause. Was würde sie dort erwarten?
Sie konnte sich nicht mehr von dem Kleinen verabschieden.
Rettungshubschrauber, Kripo, alle waren schon vor ihr dort gewesen.
Der leblose kleine Körper war nicht mehr in ihrem Zuhause.
Eine bedrückende Atmosphäre, schwer wie Blei, empfing sie.
Ein Schmerz, der nicht in Worte zu fassen war.
Eine Leere, die niemand füllen konnte.
Das kleine Zwillingsmädchen wanderte von Arm zu Arm. So als wollte jeder sie festhalten, als ob sie auch plötzlich sterben könnte. Es tat gut, das lebendige kleine Mädchen zu halten.
Gefühltes Leben mitten in der Leere und der starren Traurigkeit.
Plötzlicher Kindstod. So überraschend und so grausam.
Warum?
Wer kann das sagen? Wer hat dafür Worte?
Im Herz eine offene, tiefe, klaffende Wunde.
Und da war es wieder. Das Gefühl, allein zu sein und es allein schaffen zu müssen. Das Gefühl, das Tabea vermutlich als Baby erstmals während der Operation und danach im Krankenhaus erlebt hatte.
Allein.
Tränen. Noch mehr Tränen. Wie viel kann eine Neunjährige weinen?
Und trotzdem.
Da war etwas ganz Besonderes.
Eine Wärme ums Herz, ein Frieden, Licht, Zuversicht, Hoffnung.
Auch auf der Beerdigung. Als der kleine weiße Sarg in der Kapelle stand. Licht und bunte Farben.
Das Bewusstsein der Trauer aber auch die tiefe Gewissheit, dass das kleine Baby lebte – an einem anderen Ort.
Dass die Engel gekommen waren, um ihn zu holen.
„Gott war so krass da. Ich wusste es einfach. Ich fand es komisch, wenn andere das so nicht gespürt haben.“
Tabeas Eltern gingen etwas später zu einer Selbsthilfegruppe. Und verließen sie bald wieder.
Niemand außer ihnen spürte so eine Hoffnung und einen Frieden im Herzen.
Die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit der anderen Eltern konnten sie nicht ertragen.
„Ich stellte mir vor, wie Emmanuel in seinem Bettchen im Himmel lag und mit den Löwen spielen durfte. So hat mein Papa uns es beschrieben“, erzählte mir Tabea. „Das war eine so schöne Vorstellung.“
Später malte sie sich aus, wie es wäre, wenn sie selbst sterben würde.
„Es war dann so wie ein glückserfüllter heller Sommertag. Der Wind wehte, die Temperatur war perfekt, die Blumen blühten.
Bei Jesus ist es ja so schön, deshalb brauchte ich keine Angst zu haben.“
Ich fragte, ob es an den Erklärungen ihres Vaters gelegen hatte.
„Ja, er hat es uns immer wieder beschrieben und erzählt. Auch meine Mutter war sich ganz sicher, dass es Emmanuel gut ging. Und es hat mich auch enorm gestärkt zu sehen, dass meine Eltern nicht daran zerbrochen sind, sondern den Verlust bewältigen konnten.“
Der Tod hatte für Tabea seinen Schrecken verloren.
„Ich will dich unterweisen und dir den Weg zeigen, den du gehen sollst; ich will dich mit meinen Augen leiten.“ (Psalm 32, 8 Luth.)
So lautete der Segensvers für Emmanuel, der sich stärkend immer wieder den Weg in die Gedanken seiner Mutter bahnte.
Emmanuels Weg auf der Erde war kürzer gewesen als gedacht. Aber Gottes Augen hatten ihn nie aus dem Blick verloren. Sie führten ihn direkt zu ihm selbst.
Er erlebte die ewige Freiheit, die Dietrich Bonhoeffer in folgendem Gedicht beschrieb:
„Tod
Komm nun, höchstes Fest auf dem Wege zur ewigen Freiheit,
Tod, leg nieder beschwerliche Ketten und Mauern
unsres vergänglichen Leibes und unsrer verblendeten Seele,
daß wir endlich erblicken, was hier uns zu sehen mißgönnt ist.
Freiheit, dich suchten wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden.
Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst.“
(D. Bonhoeffer, Juli 1944, https://gedichte.xbib.de/Bonhoeffer%2C+Dietrich_gedicht_009.+Tod.htm, gef. am 06.10.2023)
* Name geändert.
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